Zur Notwendigkeit evidenzbasierter Risiko- und Gesundheitskommunikation
Aktuelle Ausgangslage
Die meisten BürgerInnen wollen aktiv zur Beendigung der Pandemie beitragen und sich entsprechend geltender und sinnvoller Regeln verhalten. Ein Mangel an Übereinstimmung von verfügbaren Informationen, ihrer Bewertungen und den resultierenden Empfehlungen trägt zu Verunsicherung der Bevölkerung bei, bietet Angriffsfläche für Falsch- und Desinformation, untergräbt das Vertrauen in staatliches Handeln und gefährdet den Erfolg von wichtigen Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit. Um das Individuum und die Gesellschaft in ihrer Selbstwirksamkeit und risikokompetentem Verhalten zu unterstützen, ist eine reaktionsschnelle,
evidenzbasierte, zielgruppen- und nutzerspezifische Risiko- und Gesundheitskommunikation unabdingbar. Diese muss wissenschaftliche Evidenz einfach erklären, in Handlungsempfehlungen übersetzen und zur Bezugsnorm und ersten Wahl für hilfreiche und verlässlich Information werden. Auch wenn aktuell Behörden und Ministerien Teile davon realisieren, gibt es in Deutschland keine Institution, die eine nach den unten aufgeführten Prinzipien koordinierte Risiko- und Gesundheitskommunikation umsetzt.
Bausteine einer effektiven Risiko- und Gesundheitskommunikation
In einer dezentralen und pluralistischen Gesellschaft wie in Deutschland werden immer diverse Akteure informieren und kommunizieren. Im Rahmen dieser Vielfalt muss es eine fachlich fundierte und evidenzbasierte Gesundheitskommunikation geben, die von multidisziplinärer Fachexpertise entwickelt und umgesetzt wird und idealerweise hohes Vertrauen in der Bevölkerung genießt. Dafür sind mindestens vier Bausteine notwendig, die eng ineinandergreifen.
Der erste Baustein ist die Generierung des besten verfügbaren Wissens. Hierzu gehören Strukturen, die a) die Zusammenführung medizinischer und epidemiologischer Informationen ermöglichen, d.h. die Auswertung und Interpretation der relevanten Studien, Modellierungen, gesundheitsrelevanter Statistiken und Kennzahlen; b) das regelmäßige Monitoring verhaltensrelevanter Aspekte wie Maßnahmenakzeptanz, Impfbereitschaft, Vertrauen der Bevölkerung, etc. durchführen, und c) die Beobachtung von klassischen und sozialen Medien zur Identifikation von Trends und Falschinformationen erlauben. Diese Strukturen sollten geschaffen werden, um aufbauend auf diesem Wissen nutzerzentriert kommunizieren zu können. Die Corona-Pandemie hat die fehlende Verfügbarkeit an wichtigen Daten im Vergleich zu anderen Ländern offensichtlich gemacht und zeigt, wie dieser systemisch geduldete Mangel an Daten die wissenschaftliche Analyse und Bekämpfung der Pandemie erschwert. Insgesamt ist die mangelhafte Digitalisierung im Gesundheitssystem in Deutschland (siehe auch die 4.Stellungnahme) ein großes Hindernis—nicht zuletzt auch für erfolgreiche Kommunikation.
Der zweite Baustein ist die Übersetzung der relevanten Daten, Statistiken und Kennzahlen in nutzerzentrierte und zielgruppenspezifische, verständliche, entscheidungs- und handlungsrelevante Informationsformate. Ziele sollen Aufklärung und nicht Werbung oder Persuasion (“Überreden”) sein. Die Inhalte sollen im Sinne der Informationsgerechtigkeit auf unterschiedliche Bildungsvoraussetzungen, kulturelle, sprachliche sowie altersabhängige Unterschiede angepasst und persönlich relevant sein. Die Übersetzung der Daten soll auf der bestehenden umfangreichen Evidenz zu effektiver Kommunikation von wissenschaftlichen Inhalten, Risiken und Unsicherheiten aufbauen. Die zielgruppengerechte und inhaltliche Planung soll das Wissen aus der Beobachtung verhaltensrelevanter Aspekte und der (sozialen) Medien sowie partizipativen Ansätzen mit einbeziehen (z.B.: Wer lehnt Impfungen aus welchen Gründen ab? Wer muss mit welchen Inhalten besonders erreicht werden? Wer informiert sich wie aus welchen Quellen?). Soweit möglich sollen konkrete Entscheidungshilfen angeboten werden, wie Checklisten, einfache Entscheidungsbäume, Entscheidungsheuristiken, die jeweils auch auf existierenden Apps, z.B. der Corona-Warn-App, automatisch verfügbar gemacht werden können.
Jede Kommunikationskampagne steht heute im Wettbewerb mit Falsch- und Desinformationen. Aufgabe einer effektiven Kommunikations- und Informationsstrategie ist deshalb auch, diese zu identifizieren, zu bewerten und fachgerecht und verständlich zu entkräften. Dieses Angebot muss breit bekannt und äußerst einfach zugänglich sein. Hier ist internationale Vernetzung und die Zusammenarbeit mit anderen nationalen und internationalen Gesundheitsorganisationen essentiell. Denn wie das Virus ist auch die Infodemie, also die schnelle und weitreichende Verbreitung sowohl korrekter als auch falscher Informationen, ein globales Phänomen. Auch hier gibt es wissenschaftsbasierte Ansätze und Richtlinien, die umgesetzt werden sollten.
Der dritte Baustein ist die Verbreitung der kommunikativen Inhalte über die multiplen Kanäle einer modernen Informationsgesellschaft, von klassischen über soziale Medien bis zu e- und m-Health Angeboten. Vorbild für den Prozess der Verbreitung sollen moderne Kampagnen mit großer Reichweite und Medienvielfalt sein. Dabei ist es wiederum von zentraler Bedeutung, die Verbreitungskanäle zielgruppenspezifisch zu wählen. Es muss berücksichtigt werden, dass manche Zielgruppen wie Kinder und Jugendliche, Menschen mit Migrationshintergrund oder bildungsferne Personen über die klassischen oder modernen Medienrepertoires unterschiedlich gut erreichbar sind. Deshalb sind auch MultiplikatorInnen besonders relevant, die über interpersonale Kommunikation unter anderem in Impfberatungsstellen oder in lebensweltlichen Bezügen aktiv werden (z.B. ÄrztInnen, SozialarbeiterInnen, LehrerInnen, PflegerInnen). Diese gilt
es daher mit adäquaten Materialien und einem entsprechenden Auftrag auszustatten, um sie in der Weitergabe von Informationen und der persönlichen Kommunikation zu unterstützen. Gleiches gilt für Gesundheitsämter, so dass alle Akteure stets auf demselben und aktuellen Beratungs- und Informationsstand sind, um widersprüchliche Information an die Bevölkerung zu vermeiden. Wer als vertrauenswürdige Quelle angesehen wird, unterscheidet sich ebenfalls nach Zielgruppe (z.B. religiöse FunktionsträgerInnen statt Behörden, soziales Umfeld statt WissenschaftlerInnen). Auch dies gilt es zu berücksichtigen. Nicht zuletzt bedarf es der Zusammenarbeit mit VertreterInnen des (Wissenschafts-)Journalismus.
Der letzte Baustein ist die Evaluation der erzielten Effekte und falls notwendig die Anpassung der Strategie. Evaluation sollte schon in der Phase der Übersetzung beginnen, um die Wirkung der Inhalte und Formate zu prüfen und unbeabsichtigte Effekte zu antizipieren. Die Einbindung von BürgerInnen z.B. in Fokusgruppen oder Experimentalstudien kann die Effektivität der Kommunikation wie auch das Vertrauen in die KommunikatorInnen erhöhen.
Nachhaltige Kommunikationsstrukturen schaffen
Eine der wichtigsten Lehren aus der Corona-Pandemie ist: Die faktenbasierte und handlungsorientierte Information der Bevölkerung in Gesundheitskrisen ist unabdingbar. Der ExpertInnenrat empfiehlt daher die Verbesserung der aktuellen Kommunikation und Informationsangebote nach den oben beschriebenen Prinzipien. Der ExpertInnenrat schlägt weiter vor, die Infrastruktur für Risiko- und Gesundheitskommunikation schnell auszubauen. Dafür sollten die bestehenden Kompetenzen gebündelt und fehlende ergänzt werden. Diese multidisziplinär ausgerichtete Infrastruktur sollte fachlich unabhängig sein. Sie sollte das beste verfügbare Wissen generieren und dieses für die Bevölkerung und die Fachöffentlichkeit übersetzen, an alle relevanten Zielgruppen verbreiten und den Effekt evaluieren. Die Corona Pandemie ist nur eine von mehreren kollektiven und globalen Gesundheitskrisen, auf die die Gesellschaft reagieren muss. Deshalb bedarf es der Einrichtung einer nachhaltigen Infrastruktur, um die Bevölkerung evidenzbasiert, schnell und effektiv zu informieren und in ihrer Risiko- und Handlungskompetenz zu unterstützen.
Zustimmung im ExpertInnenrat: 18 von 18
Quelle: Bundesregierung
Datum der Veröffentlichung: 30.01.2022