Zur Notwendigkeit einer prioritären Berücksichtigung des Kindeswohls in der Pandemie
Ausgangslage
Die Pandemie belastet Kinder und Jugendliche aus vielfältigen Gründen besonders stark. Dies schließt zum einen, wenn auch in geringerem Ausmaß als in anderen Altersgruppen, die primäre Krankheitslast durch die SARS-CoV-2-Infektion selbst ein. Besonders schwerwiegend ist allerdings die sekundäre Krankheitslast durch psychische und physische Erkrankungen der Kinder und Jugendlichen, ausgelöst u.a. durch Lockdown-Maßnahmen, Belastungen in der Familie wie Angst, Krankheit, Tod oder Existenzverlust, Verlust an sozialer Teilhabe und Planungsunsicherheit. Besonders betroffen davon sind Kinder aus sozial benachteiligten Familien. Eine sorgfältige und der jeweiligen Situation angepasste Verbindung von Infektionsschutz und sozialer Teilhabe ist zusammen mit psychosozial stabilisierenden Maßnahmen dringend erforderlich. Ein auf Basis der UN-Kinderrechts-Konvention verantwortungsvoller Umgang mit Kindern und Jugendlichen in der Pandemie bedarf aus Sicht des ExpertInnenrates eines klaren öffentlichen Bekenntnisses dazu sowie großer gesamtgesellschaftlicher Anstrengungen.
Primär durch SARS-CoV-2-Infektionen bedingte Krankheitslast
COVID-19 — Akute Krankheit
Die primäre Krankheitslast der Kinder und Jugendlichen durch eine akute Infektion mit SARS-CoV-2 ist im Vergleich zu Erwachsenen und insbesondere zur älteren Bevölkerung geringer; entsprechend sind die Hospitalisierungsrate und die Aufnahmen auf Intensivstationen und Sterblichkeit in Deutschland weitaus niedriger. Dennoch können auch Kinder und Jugendliche, insbesondere mit Vorerkrankungen und Risikofaktoren, schwer erkranken.
Pediatric Inflammatory Multisystem Syndrome (PIMS)
Neben der akuten Krankheit wird im Kindes- und Jugendalter in seltenen Fällen mehrere Wochen nach einer SARS-CoV-2-Infektion eine schwere hochfieberhafte Allgemeinerkrankung mit überschießender Entzündungsreaktion beobachtet (Pediatric Inflammatory Multisystem Syndrome (PIMS)), die bei einem Teil der PatientInnen einer intensivmedizinischen Behandlung bedarf. Seit Pandemiebeginn wurden im Register der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie aus über der Hälfte aller deutschen Kinderkliniken insgesamt ca. 700 PIMS-Fälle gemeldet (Stand Februar 2022). Die tatsächliche Zahl wird aufgrund der annehmbaren Untererfassung höher liegen.
Long-COVID
Long-COVID Symptome werden auch im Kindes- und Jugendalter beobachtet, allerdings deutlich seltener als bei Erwachsenen. Langfristige Symptome nach einer SARS-CoV-2-Infektion lassen sich – gerade bei jüngeren Kindern – schwer von Belastungssymptomen im Zusammenhang mit der Pandemie unterscheiden. Valide Daten zur Häufigkeit, Schwere und Prognose liegen bisher nicht vor. Die Krankheitslast hinsichtlich kognitiver, psychischer und physischer Folgen insbesondere bei Jugendlichen muss allerdings ernst genommen werden.
Kitas, Schulen und Betreuungseinrichtungen als Orte vieler Kontakte
Kitas, Schulen und Betreuungseinrichtungen bergen durch die hohe Zahl an Kontakten unmittelbare Infektionsrisiken. WissenschaftlerInnen, Institutionen und Betroffenenverbände haben eine AWMFS3- Leitlinie entwickelt, die Schulen konkrete Empfehlungen für Maßnahmen unter Pandemiebedingungen gibt. Untersuchungen zeigen, dass nach den Ferien jeweils mehr Infektionen als erwartet detektiert wurden, was darauf schließen lässt, dass Testungen in Schulen zur Reduktion der Dunkelziffer und zur Erkennung von Infektionen und somit zum Infektionsschutz beitragen können. Einrichtungen in sozial benachteiligten Regionen und Brennpunkten sind besonders von SARS-CoV-2-Infektionen betroffen und benötigen besondere Aufmerksamkeit und Unterstützung.
Sekundäre, nicht direkt durch SARS-CoV-2-Infektionen bedingte Krankheitslast in der Pandemie
Neben der infektionsbedingten primären Krankheitslast sind die Beeinträchtigungen des seelischen und sozialen Wohlbefindens der Kinder und Jugendlichen einschließlich der substanziellen Verluste in Bildung, Sport und Freizeitgestaltung mit allen kumulativen Langzeitauswirkungen von besonderer Bedeutung. In Deutschland und anderen Ländern werden im Längsschnitt vermehrte psychische Belastungen und psychiatrische Krankheitsbilder wie Depression, Anorexie und Bulimie sowie eine Zunahme von Adipositas berichtet. Auch die exzessive Mediennutzung ist weiter angestiegen. Besonders ausgeprägt sind die beschriebenen Effekte bei Kindern und Jugendlichen aus sozial benachteiligten Familien in Folge von Armut, Bildungsferne, Migrationshintergrund oder fehlenden Sprachkenntnissen.
Impfstrategien
Die primäre und sekundäre Krankheitslast bei Kindern und Jugendlichen müssen berücksichtigt, ihre Sorgen und die ihrer Eltern respektiert werden. Daher ist zu begrüßen, dass Impfstoffe für Kinder ab 5 Jahren zugelassen sind. Die STIKO hat in ihren Empfehlungen sorgfältig Nutzen und Risiko unter Bewertung der zum Zeitpunkt der Empfehlung verfügbaren wissenschaftlichen Evidenz abgewogen. Für die Impfempfehlung der STIKO steht der Individualnutzen für Kinder durch die Impfung im Vordergrund, die sowohl vor schwerer Erkrankung als auch vor infektionsbedingten Folgeerkrankungen schützt. Die vollständige Teilhabe von Kindern und Jugendlichen an Bildung, Kultur und anderen Aktivitäten des sozialen Lebens darf jedoch nicht vom SARS-CoV-2 Impfstatus abhängig gemacht werden. Die Impfung der Kinder und Jugendlichen kann einen Beitrag dazu leisten, die Sozialsysteme Schule, Kita sowie Freizeit- und Sportangebote zu stabilisieren. Sie ersetzt nicht das Schließen von Impflücken bei Erwachsenen.
Empfehlungen und notwendige Maßnahmen
1. Bei allen Maßnahmen in der Pandemie, die Kinder und Jugendliche betreffen, ist vorrangig das Kindeswohl zu berücksichtigen. Kinder müssen vor Infektionen und vor Erkrankungen infolge der Pandemie gleichermaßen geschützt werden. Der ExpertInnenrat rät zur Wiedereinsetzung der interministeriellen Arbeitsgruppe mit Vertretern der Interessen von Kindern und Jugendlichen unter partizipativer Beteiligung von SchülerInnen. Deren Empfehlungen sollen in Maßnahmen auf Bundes- und Länderebene münden.
2. Sowohl die primäre als auch die sekundäre Krankheitslast sind unter spezifischer Berücksichtigung von Kindern und Jugendlichen wissenschaftlich zu erfassen und zu bewerten. Daher empfiehlt der ExpertInnenrat, langfristig Fördermittel für die Führung eines kontinuierlichen bundesweiten Gesundheits- und maßnahmen-Monitorings, altersspezifischer Register und strukturierter Nachuntersuchungen bereitzustellen. In diese Untersuchungen sind auch PIMS, Long-COVID und die Nachbeobachtung geimpfter Kinder und Jugendlicher einzuschließen.
3. Da bislang die Impfquote bei 12-17-Jährigen trotz vorliegender STIKO-Empfehlung niedrig ist und Eltern von 5-11-Jährigen auch ohne allgemeine Empfehlung gemeinsam mit ihrer Ärztin/ihrem Arzt eine individuelle Impfentscheidung treffen können, ist eine zusätzliche, an Eltern, Kinder und Jugendliche gerichtete Informations- und Aufklärungskampagne erforderlich. Der ExpertInnenrat unterstützt auch die STIKO-Empfehlung, dass Eltern, LehrerInnen, ErzieherInnen sowie weitere Betreuungspersonen von Kindern und Jugendlichen das Impfangebot inklusive Auffrischungsimpfung für sich selbst wahrnehmen sollen.
4. Die in der Pandemie getroffenen Maßnahmen haben für Kinder und Jugendliche negative Auswirkungen, u.a. eingeschränkte soziale Kontakte, verschlechterte Planungssicherheit, weniger Freizeit- und Bildungsangebote durch Schließung von Schulen, Erziehungs- und Sporteinrichtungen. Die damit verbundene Morbidität mit möglichen Auswirkungen auf die Lebensspanne und Lebensqualität dieser Generation müssen abgemildert und die bereits eingetretenen nachteiligen Effekte bestmöglich kompensiert werden. Dies muss auch den Umgang mit Leistungsdruck einbeziehen, den Kinder und Jugendliche aufgrund des Ausfalls von Unterricht, Isolation und Quarantäne bei gleichbleibenden Anforderungen erleben. Hierzu bedarf es der Umgestaltung von Lehrplänen ebenso wie nachhaltiger staatlicher Förderprogramme, die ohne Verzögerung implementiert und umgesetzt werden.
5. Zugangsbeschränkungen, die einen Großteil der Kinder und Jugendlichen vom Besuch altersgerechter Freizeitangebote (Jugendclub, Kino, Konzerte etc.) ausschließen, müssen auf Bundes- und Länderebene entfallen, soweit es die pandemische Lage erlaubt. Die aktuellen Regelungen für Kinder und Jugendliche unterscheiden sich drastisch und scheinbar willkürlich zwischen den Bundesländern. Der ExpertInnenrat ruft die Bundesländer auf, Regeln einheitlich nach dem Prinzip der maximal möglichen Teilhabe zu gestalten.
6. Um neue Infektionen so weit wie möglich zu verhindern empfiehlt der ExpertInnenrat, den Betrieb der o.g. Einrichtungen unter Umsetzung insbesondere der AWMF-S3-Leitlinie zur Sicherstellung des Schulbetriebs unter Pandemiebedingungen durch bestmöglich implementierten Infektionsschutz so sicher wie möglich zu gestalten, und eine Schließung allenfalls als ultima ratio in Betracht zu ziehen, wenn alle anderen gesamtgesellschaftlichen Maßnahmen der Kontaktbeschränkung nicht erfolgreich waren. Dies gilt analog für Kitas und andere Einrichtungen. Eine Erneuerung schulischer Infrastrukturen, die zur Umsetzung der Leitlinie notwendig sind, ist dringend geboten. Niedrigschwellige, an sozialen Kriterien orientierte Betreuungsangebote für gefährdete Familien sind ebenso erforderlich wie die Entwicklung und Implementierung von digitalen Infrastrukturen mit entsprechenden pädagogischen Konzepten.
7. Darüber hinaus empfiehlt der ExpertInnenrat die prioritäre Entwicklung und schnelle Umsetzung von Maßnahmen und Programmen, die nicht nur die pandemiebedingten Defizite kompensieren helfen, sondern vorrangig zum Ziel haben, die bereits zuvor bestehenden Ungleichheiten in Bildungs- und Entwicklungschancen von Kindern und Jugendlichen nachhaltig zu verbessern. Dazu sind neben dem Ausbau von alltagsintegrierter sprachlicher Bildung als festem Bestandteil der Kindertagesbetreuung sowie Förderinstrumenten für SchülerInnen mit schwächeren Leistungen auch dauerhafte psychosoziale, psychotherapeutische und psychiatrische Angebote insbesondere mit niedrigschwelliger schulischer Anbindung sowie erweiterte Jugendhilfemaßnahmen erforderlich; dies schließt Schulsozialarbeit und Stärkung der stadtteilbezogenen offenen Jugendarbeit in besonders belasteten Wohnquartieren ausdrücklich mit ein.
8. Die medizinische Versorgungssituation im kinder- und jugendpsychiatrischen, kinder- und jugendmedizinischen sowie sozialpädiatrischen Bereich muss sowohl im ambulanten wie auch im stationären Sektor entsprechend den Vereinbarungen im aktuellen Koalitionsvertrag mit hoher Priorität verbessert und eine auskömmliche Finanzierung, die den besonderen Anforderungen von Kindern und Jugendlichen sowie den hohen Vorhaltekosten im stationären Bereich gerecht wird, sichergestellt werden.
Zustimmung im ExpertInnenrat: 19 von 19
Quelle: Bundesregierung (rs)
17.2.2022