4. Stellungnahme des ExpertInnenrates der Bundesregierung zu COVID-19

(C) Bundesregierung

Dringende Maßnahmen für eine verbesserte Datenerhebung und Digitalisierung

Datum der Veröffentlichung: 22.01.2022

Ausgangslage

Die Bewertung des bisherigen Verlaufs der SARS-CoV-2 Pandemie in Deutschland fällt heterogen aus. Auf der einen Seite steht ein insgesamt sehr leistungsfähiges und belastbares Gesundheitssystem, das die Herausforderungen auf der Versorgungsseite überwiegend bewältigen konnte. Auf der anderen Seite ist sehr deutlich geworden, dass auch zwei Jahre nach Beginn der Pandemie in Deutschland weiterhin kein Zugang zu einigen wichtigen, aktuellen Versorgungsdaten besteht. Diese Informationen sind für ein effektives Pandemiemanagement und als Grundlage für politische Entscheidungen essentiell. Darüber hinaus stehen wichtige Versorgungsdaten aus dem deutschen Gesundheitswesen entweder gar nicht, unvollständig, oder nur mit erheblichem Zeitverzug für wissenschaftliche Auswertungen maschinenlesbar zur Verfügung. In anderen Industrieländern, wie z.B. Dänemark oder Israel, hat eine Datenerhebung in Echtzeit auf individueller Fallebene zur effizienten Bewältigung der Pandemie erheblich beigetragen. Im Rahmen der COVID-19- Pandemie hat das Meldesystem mit der Inbetriebnahme des Deutschen Elektronischen Melde- und Informationssystems für den Infektionsschutz (DEMIS) bereits eine große Verbesserung erfahren, die insbesondere die Digitalisierung in den Gesundheitsämtern unterstützt. In einem Teilsegment ist es durch das Intensivregister gelungen, in Deutschland Echtzeit-Daten zur Belegung der Intensivstationen zu generieren und damit ein Monitoring dieser wichtigen Ressource der politischen Entscheidungsebene und der Öffentlichkeit tagesaktuell zur Verfügung zu stellen. Das Intensivregister erfasst jedoch keine Einzelfälle, sondern bildet Belegung und Ressourcen ab.

Die aktuelle Omikron-Welle mit ihrer veränderten Infektionsdynamik verstärkt und verdeutlicht erneut das Defizit bei der zeitnahen Datenerfassung bzw. Datenverfügbarkeit. Gravierend wirkt sich aus, dass Deutschland bisher nicht über eine patientenindividuelle Datenerfassung und anonymisierte Auswertung durch eine elektronische Patientenakte verfügt. Zur Bewertung der aktuellen Lage und zur Evidenzbildung für daraus resultierende Entscheidungen über Gegenmaßnahmen wird insbesondere die aktuelle Hospitalisierungsrate in allen Altersgruppen dringend benötigt. Gerade bei der Hospitalisierung zeigt sich das eklatante Defizit der Verfügbarkeit zeitnaher Daten, und zwar bundesweit wie auch regional aufgelöst. Dies betrifft vor allem auch die fehlende Datengrundlage bezüglich der täglich verfügbaren und belegten Krankenhausbetten.

Risiko durch fehlende Datenerhebung und -verknüpfung

Eine aktuelle Datenerhebung, Verknüpfung epidemiologischer und klinischer Daten und deren wissenschaftliche Auswertung ist für ein daten- und evidenzbasiertes Pandemiemanagement von höchster Bedeutung. Da eine Hospitalisierung mit einem erhöhten Schweregrad einer Erkrankung gleichzusetzen ist, bilden anonymisierte Echtzeitdaten zur Krankenhauseinweisung die Schwere der Krankheitslast in der Bevölkerung ab. Die Erfassung der Daten verfolgt dabei zwei unterschiedliche Ziele. Zum einen müssen Ressourcen des Krankenhaussystems über die Intensivmedizin hinaus abgebildet werden. Zum anderen müssen patientenindividuelle Daten erfasst und einer zeitnahen Auswertung zugänglich gemacht werden. Eine Verknüpfung beider Bereiche sollte darüber hinaus im laufenden Jahr angestrebt werden.
Im Moment bedient sich Deutschland zur Einschätzung der Omikron-Variante vorrangig ausländischer Untersuchungen, z.B. aus Großbritannien, Dänemark und den USA, die Daten mit hoher zeitlicher Auflösung zu Infektiosität und Krankheitsschwere zur Verfügung stellen. Diese Daten sind für die Bewertung der aktuellen Lage und potentieller Szenarien von hohem Wert, jedoch ist ihre Übertragbarkeit auf die hiesige Situation aufgrund verschiedener Faktoren (Impfquote, Seroprävalenz, Altersstruktur, Gesundheitssystem, aktuell geltende Maßnahmen) limitiert, was die Möglichkeit von Fehleinschätzungen impliziert.

Eine systematische Datenerfassung zur Impfung und Therapie bei COVID-19 auf individueller Ebene kommt zudem den PatientInnen direkt zugute. Zum Beispiel erbrachte die Auswertung der israelischen Gesundheitsdaten wichtige Erkentnisse zur Wirksamkeit der COVID-19 mRNA-Impfung, die frühzeitig Hinweise auf die Notwendigkeit einer Booster-Impfung (Drittimpfung) lieferten. Vergleichbare Informationen gibt es in Deutschland nicht. Hierzu ist u.a. die Erfassung der Therapiemaßnahmen und des Impfstatus aller BürgerInnen z.B. durch ihre Krankenversicherung vonnöten. Hochaufgelöste, altersstratifizierte Daten zu Impfquoten, Impfeffektivität und -nebenwirkungen müssen zwingend erhoben werden.

Erforderliche Maßnahmen
Deutschland benötigt eine umfassende Digitalisierung des Gesundheitswesens mit Ausleitung, Auswertung und Veröffentlichung von anonymisierten Gesundheitsdaten in
Echtzeit. Die Einführung der elektronischen Patientenakte sollte mit höchster Priorität umgesetzt werden. Der ExpertInnenrat empfiehlt dabei die umgehende Umsetzung der Empfehlungen aus dem 2021 erstellten Gutachten des Sachverständigenrats zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen. Dieses Gutachten liefert eine umfängliche und detaillierte Beschreibung der Problemlage und listet präzise die notwendigen Maßnahmen auf. Eine weitere Verzögerung der 2003 beschlossenen und gesetzlich verankerten elektronischen Patientenakte ist nicht mehr mit einem modernen Gesundheitswesen und Pandemiemanagement vereinbar. Darüber hinaus muss die Digitalisierung im Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD) durch die im Rahmen des Paktes für den ÖGD beschlossenen Maßnahmen vorangebracht werden.

Notwendige ad hoc Maßnahmen
Daten zu Krankenhausressourcen und -belegung sollten über die etablierten Wege der Datenübertragung aus den Krankenhäusern an eine bereits mit der routinemäßigen Annahme von Krankenhausdaten betrauten Stelle übermittelt werden. Die Krankenhäuser müssen über ihr Controlling verpflichtet werden, neben ihren freien und belegten Ressourcen alle Aufnahmen oder nosokomiale Infektionen mit SARS-CoV-2 innerhalb der letzten 24 Stunden unter Angabe der Alterskategorie zu melden. Es muss darüberhinaus sichergestellt werden, dass anonymisierten Daten der Krankenhausressourcen und -belegung insbesondere mit COVID-19 tagesaktuell, maschinenlesbar und transparent zur Verfügung gestellt werden. Dadurch könnte sehr zeitnah eine suffiziente Datengrundlage zur tagesaktuellen Lagebeurteilung generiert werden. Eine Echtzeitübersicht über alle verfügbaren Krankenhausbetten mit aktueller Belegung auch außerhalb der Intensivmedizin wird dringend benötigt. Darüber hinaus sollte die Pflegebesetzung in den Kliniken, die bereits routinemäßig übermittelt wird, auch für wissenschaftliche Auswertungen zur Verfügung stehen.

Neben der dringenden, umfänglichen Digitalisierung des gesamten Gesundheitswesens empfiehlt der ExpertInnenrat umgehend ergänzende Regelungen zu treffen, um die
patientenindividuellen Daten zur Krankenhausaufnahme bei COVID-19 elektronisch tagesaktuell in das Meldesystem DEMIS einzuspeisen. Hierzu sollte geprüft werden, ob in den Krankenhäusern flächendeckend etablierte elektronische Wege anschlussfähig sind.

Mittelfristige Maßnahmen zur Vorbereitung auf den Winter 2022/23
Gesundheitsdaten sollten möglichst zeitnah einzelfallbasiert und vollständig in Form einer elektronischen Patientenakte vorliegen und neben dem Zweck der verbesserten Patientenversorgung auch für die anonymisierte wissenschaftliche Auswertung zugänglich sein. Die Digitalisierung des ÖGD soll durch die Weiterentwicklung von DEMIS hin zu einer digitalen interoperablen Plattform für den ÖGD vorangetrieben werden, um neben den Aspekten der Patientenversorgung auch das Einleiten und die Umsetzung von notwendigen Infektionsschutzmaßnahmen vor Ort zu unterstützen. Zusammenfassend sieht der ExpertInnenrat in der zeitnahen Digitalisierung des deutschen  Gesundheitssystems und des ÖGD eine wesentliche Voraussetzung für eine datenbasierte Steuerung und Bewältigung des aktuellen pandemischen Geschehens, aber auch für die Vorbereitung auf künftige Gesundheitskrisen in Deutschland.
Die hier empfohlenen Maßnahmen dienen primär einer verbesserten Lagebeurteilung und einer verbesserten Krankenversorgung. Weitere Digitalisierungsschritte und Maßnahmen für eine offene Zugänglichkeit und zeitgemäße wissenschaftliche Analyse Pandemie-relevanter Daten und Aspekte sind darüber hinaus dringend, insbesondere auch zur Vorbereitung auf den Herbst/Winter 2022/23 notwendig.

Zustimmung im ExpertInnenrat: 19 von 19

 

Quelle: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung

22.01.2022