Ausgangslage in Deutschland
Die Zahl der SARS-CoV-2 Infektionen ist bisher kontinuierlich angestiegen, eine Plateaubildung und ein nachfolgender Abfall für die Omikron (BA.1) Welle ist aber in den kommenden Wochen zu erwarten. Für diesen Zeitpunkt ist es wichtig, vorausschauend Öffnungsstrategien zu planen und diese Schritte verständlich zu kommunizieren.
Im Vergleich zu vorhergehenden Infektionswellen kommt es gegenwärtig durch die starke Immunflucht der Omikron-Variante auch zu vermehrten Infektionen unter Geimpften und Genesenen, die jedoch häufig leicht bis moderat verlaufen. Diese Infektionswelle ist insbesondere durch einen erhöhten Krankheits- und Quarantäne-bedingten Personalausfall in allen Bereichen des öffentlichen Lebens gekennzeichnet.
Die Krankenhausbelegungszahlen für PatientInnen mit der Haupt- oder Nebendiagnose COVID-19 haben in den vergangenen Wochen stark zugenommen. Die Neuaufnahmen auf die Intensivstationen nehmen ebenfalls kontinuierlich zu. Dabei hat der prozentuale Anteil der COVID-19 PatentInnen mit Atemunterstützung abgenommen, stagniert aber im Moment. Ein Teil der hospitalisierten PatientInnen präsentiert sich aktuell auch mit der Nebendiagnose COVID-19. Dies unterstreicht die Wichtigkeit der zukünftigen Patienten-individuellen Datenerfassung. Der hohe Betreuungsaufwand auch dieser Patientengruppe insbesondere aus pflegerischer Sicht bleibt bestehen. Durch teils kürzere Verweildauern der Omikron-Fälle und einen Rückgang der PatientInnen mit einer Delta-Infektion steigt die Gesamtzahl der IntensivpatientInnen mit COVID-19 bisher nicht wesentlich an.
Während die aktuelle Omikron-Welle durch die BA.1 Subvariante geprägt ist, nehmen der Anteil und die Zahl der Infektionen durch die Omikron-Linie BA.2 (21L) zu. Nach bisherigen Erkenntnissen hat BA.2 gegenüber BA.1 einen Fitnessvorteil, ist also vermutlich noch leichter übertragbar. Über die Krankheitsschwere bei Infektionen mit BA.2 liegen noch keine ausreichenden Erkenntnisse vor. Die Ausbreitung von BA.2 könnte jedoch zu erneut steigenden Inzidenzen und zu einer Verlängerung der Omikron-Welle führen. Dies ist aktuell jedoch noch nicht vorhersagbar.
Neben den über 60-Jährigen und Menschen mit schweren Grunderkrankungen weisen ungeimpfte Menschen allerdings das höchste Risiko für schwere Krankheitsverläufe auch durch Omikron-Infektionen auf. Mit aktuell zunehmenden, wenn auch vergleichsweise noch geringen Inzidenzen in der Altersgruppe über 60 Jahre, wird sich die Intensivbelegung dieser Altersgruppe sukzessive weiter erhöhen. Weiterhin werden ungeimpfte und ältere Personen im Rahmen von Lockerungsmaßnahmen wahrscheinlich wieder vermehrt ins Infektionsgeschehen eingebunden.
Bemessungsgrundlage für Infektionsschutzmaßnahmen
Die 7-Tage-Inzidenz war in den vorangegangenen Wellen ein wichtiger Frühwarnindikator, der sich mit einer Verzögerung von 7-10 Tagen in Hospitalisierungen und Intensivbelegung übersetzt hat. Aufgrund der veränderten Grundbedingungen durch eine erhöhte Immunitätslage in der Bevölkerung, Abschwächung der Omikron-Variante bezogen auf die Krankheitsschwere und die Einbeziehung der Geimpften in das Infektionsgeschehen bleibt die Krankenhausbelegung zwar weiter an die Inzidenz gekoppelt, aber mit einem niedrigeren Umrechnungsfaktor. Die 7-Tagesinzidenz tritt daher aktuell in den Hintergrund für die Bemessung der Infektionsschutzmaßnahmen. Die altersabhängige Inzidenz ist zum Verständnis der Entwicklung und für die Vorhersagen jedoch nach wie vor sehr hilfreich, und bleibt auch im Jahresverlauf als Frühindikator wichtig. Sie bildet weiterhin das regionale Infektionsgeschehen ab und bleibt damit ein wichtiger Parameter für die Virusausbreitung und Informationen des lokalen Managements. In der jetzigen Phase der Pandemie sind hingegen Hospitalisierungsinzidenz und Neuaufnahmen sowie die Neuaufnahmen und Belegung der Intensivstationen mit COVID-19-Fällen entscheidende Parameter für die Beurteilung der
Belastung des Gesundheitswesens. Diese Parameter müssen daher tagesaktuell zur Verfügung stehen (siehe 4. Stellungnahme zur Digitalisierung vom 22.1.2022). Die Krankheitslast und Schwere der Erkrankung wird durch stichprobenbasierte Überwachung (syndromische Surveillance) und die Erhebung der Hospitalisierungsrate abgebildet.
Weiterhin ist der Trend der COVID-19 assoziierten Todesfälle ein wichtiger, wenn auch stark zeitverzögerter Parameter zur Einschätzung der Krankheitslast. Hier wird in den Europäischen Nachbarländern ein teils deutlicher, und im Vergleich zu den Inzidenzen zeitverzögerter, Anstieg beobachtet. Zur Einschätzung der Lage sind bei sehr hohem Infektionsgeschehen weiterhin Personalausfälle der kritischen Infrastruktur unbedingt zu beachten, insbesondere im Hinblick auf die patientennah tätigen Pflegenden in allen Bereichen des Gesundheitswesens. Aus Sicht des ExpertInnenrats sollte daher in dieser Phase der Pandemie die Krankheitslast und die Belastung des Gesundheitswesens die Bemessungsgrundlage für Infektionsschutzmaßnahmen sein: Hospitalisierungsinzidenz, Intensivneuaufnahmen und -belegung sowie die altersaufgelöste stichprobenbasierte Überwachung.
Eine neue Phase der Pandemie
Die Omikron-Welle zeigt bisher verglichen mit vorangegangenen Infektionswellen höhere Inzidenzen, aber eine verminderte individuelle Krankheitslast. Allerdings gibt es zahlreiche Unsicherheiten aufgrund einer nach wie vor weitaus zu großen Immunitätslücke in der Bevölkerung. Wir befinden uns daher in einer neuen Phase der Pandemie. Sie erfordert weiterhin ein hohes Maß an Aufmerksamkeit, effizientes Monitoring aller oben genannten Indikatoren und damit eine kontinuierliche und präzise Erfassung der Krankheitslast, um ein verantwortungsvolles Zurückfahren bzw. Anpassen von Infektionsschutzmaßnahmen zu ermöglichen. Die Dauer dieser neuen Phase der Pandemie ist von zahlreichen Faktoren abhängig, wie der Impfquote und der Verbreitung neuer Virusvarianten, und kann daher nicht präzise vorhergesagt werden. Nach bisherigen Erkenntnissen schützen Erstinfektionen mit der Omikron-Variante bei Menschen ohne Impfschutz nicht zuverlässig gegen Infektionen mit anderen Varianten. Spätestens im Herbst besteht das Risiko erneuter Infektionswellen. Hierbei muss bedacht werden, dass bisherige Virusvarianten wie der Delta Serotyp weiter zirkulieren und neue Infektionswellen auslösen können.
Perspektive
Die veränderten Bedingungen der Übergangsphase und die damit veränderte Strategie zur Minimierung der Krankheitslast müssen klar und bundesweit einheitlich kommuniziert werden, um eine breite Akzeptanz und Adhärenz in der Bevölkerung zu schaffen. Ein Zurückfahren staatlicher Infektionsschutzmaßnahmen erscheint sinnvoll, sobald ein stabiler Abfall der Hospitalisierung und Intensivneuaufnahmen und -belegung zu verzeichnen ist. Ein zu frühes Öffnen birgt die Gefahr eines erneuten Anstieges der Krankheitslast. Durch die Untervariante BA.2 muss mit einer gegenüber aktuellen Schätzungen für BA.1 verlängerten bzw. wiederansteigenden Omikron-Welle gerechnet werden.
Zu bedenken bleibt hierbei, dass im Rahmen etwaiger Öffnungsschritte ungeimpfte und ältere Menschen mit einem Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf verstärkt in das Infektionsgeschehen einbezogen werden. Weiterhin tragen diese Gruppen das höchste Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf und müssen geschützt werden. Die Bevölkerung sollte weiter zu umsichtigem und eigenverantwortlichem Handeln in Bezug auf den Infektionsschutz aufgefordert werden.
Das Tragen der Masken bietet eine hohe Wirksamkeit bei geringer individueller Einschränkung. Die Möglichkeit zur Anwendung der Maskenpflicht, insbesondere in öffentlichen Räumen, sollte grundsätzlich beibehalten werden; bei hinreichend niedrigen Infektionszahlen kann sie temporär aufgehoben werden, allerdings begleitet von einer klaren Kommunikation zur zeitlichen Befristung. Weiterhin ist dem unterschiedlichen Ansteckungsrisiko in Außen- und Innenbereichen Rechnung zu tragen. Perspektivisch ist aber insbesondere im Herbst/Winter davon auszugehen, dass bestimmte Maßnahmen wie z.B. das Tragen von Masken in Innenräumen oder regelmäßiges Testen in Einrichtungen mit vulnerablen Gruppen erneut notwendig sein werden.
Selbstisolation bei entsprechenden Symptomen und anlassbezogene Testungen bleiben in der aktuellen Phase von hoher Wichtigkeit. Der ExpertInnenrat empfiehlt, u.a. auch aufgrund der hohen wirtschaftlichen und ökologischen Belastung, in den kommenden Monaten die nationale Teststrategie anzupassen. Insbesondere sollte geprüft werden, ob Testungen auf symptomatische Fälle beschränkt bleiben. Die frühzeitige Erfassung von deutlichen Änderungen der Infektionsdynamik, z.B. über die stichprobenartige Überwachung ist insbesondere im Hinblick auf den kommenden Herbst/Winter elementar. Auch sollte über
COVID-19 hinaus die tagesaktuelle, bundesweite Überwachung der altersbezogenen Hospitalisierung, Verfügbarkeit von Kapazitäten und Intensivbelegung von PatientInnen mit Influenza, RSV und anderen Atemwegserregern bereits jetzt vorbereitet werden. Informationen wie Alter und Immunitätsstatus sind wichtig für eine präzise Einschätzung der Lage.
Eine wichtige Bedingung zur Überwindung der Pandemie wird aus Sicht des ExpertInnenrats sein, dass neben der Reduktion der Krankheitslast auch die spontane Übertragbarkeit des Virus verringert ist. Hier geht es letztlich um das Erreichen einer übertragungsverringernden Immunität an den Schleimhäuten der oberen Atemwege (mukosale Immunität). Die Situation ist bisher noch nicht mit der saisonalen Influenza vergleichbar, bei der ein Übertragungsschutz auf in der Regel mehrfachen überstandenen Infektionen beruht.
Die zumindest dreifache Impfung erweist sich weiterhin als das effektivste Instrument, um die Krankheitslast durch COVID-19 zu minimieren und das Ende der Pandemie schrittweise zu erreichen. Eine möglichst lückenlose Immunität ist daher anzustreben, um in den kommenden Monaten, insbesondere im Herbst/Winter einer erneuten, starken Krankheitswelle vorzubeugen. Die anzustrebende dauerhafte Rücknahme aller staatlich verordneten 4 Infektionsschutzmaßnahmen und das Erreichen eines postpandemischen Zustands ist somit eng mit dem Erreichen einer hohen Impfquote und parallel dem eigenverantwortlichen Handeln der BürgerInnen verbunden. Trotz einiger Unsicherheiten kann nach Ansicht des ExpertInnenrats unter den oben genannten Rahmenbedingungen eine besonnene Rücknahme einzelner Infektionsschutzmaßnahmen in den kommenden Wochen möglich sein.
Zustimmung im Expertenrat: 19 von 19
Quelle : Presse und Informationsamt der Bundesregierung (cl)
13.02.2022