Gedanken zum Volkstrauertag 2020

Kann man Trauer verordnen? Mancher mag sich angesichts des heutigen Volkstrauertages fragen, ob dieser Tag mit seinem Gebot des stillen Gedenkens überhaupt noch zeitgemäß ist. Schließlich sollte es jedem Einzelnen überlassen sein, wann und in welcher Form er sich mit der Vergangenheit beschäftigt.

Niemand sollte zum Gedenken gezwungen werden, aber der Blick zurück ist wichtig, um unsere Geschichte zu verstehen, damit wir das Heute und die Zukunft verantwortungsvoll und friedlich miteinander gestalten.

Heute ist ein stiller Tag, an dem wir bewusst innehalten und der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft gedenken. Aber dieser Tag ist weit mehr als die Erinnerung an die gefallenen Soldaten.

Wir gedenken der Millionen Toten, die ihr Leben in einem der beiden Weltkriege lassen mussten.

Wir gedenken der überlebenden Soldaten, die verletzt, halb verhungert und traumatisiert nach Hause kamen. Jeder Soldat war ein Sohn, Ehemann, Freund oder Vater. Und zu jedem dieser Soldaten gehörte eine Mutter, ein Vater, eine Ehefrau, eine Freundin oder ein Kind.

Wir gedenken der Frauen, die daheimgeblieben das Leben alleine bewältigen mussten. Oft aufs Äußerste gefordert, oft alleingelassen, und die sich um Kinder, alte Eltern, um den Hof und die Arbeit kümmern mussten.

Wir gedenken der Kinder, die beschützt und unbeschwert hätten aufwachsen sollen.

Wir gedenken der Vertriebenen und der Flüchtlinge, die sich in der Fremde ein neues Zuhause aufbauen mussten.

Wir gedenken der zivilen Opfer dieser verheerenden Kriege.

Wir gedenken der Männer, Frauen und Kinder, die in Deutschland von Deutschen ermordet wurden, weil sie vermeintlich nicht dazu gepasst haben.

Wir gedenken auch der Opfer unserer Tage. Menschen leiden vielerorts unter Terrorismus, Fanatismus und furchtbarsten Menschenrechtsverletzungen.

Wir gedenken aller Menschen, die Opfer von Krieg, Gewalt und Diktatur wurden.

Seit 1945 wurden erneut Hunderte von Kriegen überall auf der Welt geführt. Wieder wurden Millionen Menschen Opfer von Krieg, Verfolgung, Vertreibung und fanatischem Terror. Nach wie vor ist Gewalt überall verbreitet um Menschen zu unterdrücken, oder um ihnen einen anderen Willen aufzuzwingen.

Und dies hat weltweit eine beispiellose Wanderbewegung in Gang gesetzt. Über 70 Millionen Menschen sind heute nach Angaben des Flüchtlingswerks der Vereinten Nationen auf der Flucht. So viele wie nie zuvor in der Geschichte der Menschheit.

Gewalt oder Krieg sind keine geeigneten Mittel in der politischen Auseinandersetzung. Deutschland ist ein friedliches und weltoffenes Land, das seine Konflikte mit Worten und Argumenten austrägt, statt mit Waffen. Ein Land, in dem Meinungsfreiheit herrscht und in dem sich jeder nach seinem Lebensentwurf entfalten kann. Und nicht zuletzt ein Land, in dem die Würde und Unversehrtheit des einzelnen Menschen das allerhöchste Gut ist.

Aber solange es Menschen gibt, die bewusst Vorurteile schüren, um andere für ihre politischen Zwecke einzuspannen, so lange ist nur mit dem menschlichen Eintreten füreinander ein friedliches Leben möglich, hier und überall auf der Welt. Es ist unser aller Aufgabe Hass, Diskriminierung und Gewalt bereits im Keim zu ersticken. Wir müssen über Grenzen hinweg denken und wir müssen erkennen, dass unsere Nachbarn Freunde, und keine Feinde sind.

Die italienische Journalistin Franca Magnani prägte das berühmt gewordene Wort: „Je mehr Bürger mit Zivilcourage ein Land hat, desto weniger Helden wird es einmal brauchen.“

Der Volkstrauertag ist eine Mahnung an uns alle, bereit und beherzt zu sein und für Toleranz und ein Zusammenleben im gegenseitigen Respekt einzustehen. Die Vergangenheit beleuchtet das Gegenwärtige, und das Erbe unserer Geschichte muss uns Wegweiser in die Zukunft sein. Ob wir die Lektionen der Vergangenheit gelernt haben, ist noch offen. Aber wir entscheiden mit darüber, wie das 21. Jahrhundert verlaufen wird.

 

(sm-VdK)

15.11.2020