10. Stellungnahme des ExpertInnenrates der Bundesregierung zu COVID-19

(C) Bundesregierung

Zur Notwendigkeit des Infektionsschutzes für pflegebedürftige Menschen in Pflegeeinrichtungen

Aktuelle Lage und Public Health Relevanz
Aktuell sind in Deutschland ca. 4,1 Mio. Menschen pflegebedürftig. Davon werden 24% mit Hilfe der ca. 14.700 ambulanten Pflege- und Betreuungsdienste versorgt, weitere 20% sind in einem der rund 15.400 Alten- und Pflegeheime untergebracht. Pflegebedürftige Personen benötigen ein hohes Maß an Unterstützung und Betreuung, um ihren Alltag zu bewältigen sowie angemessen medizinisch versorgt und psychosozial betreut zu werden. Nur so sind Lebensqualität, Autonomie und soziale Teilhabe bestmöglich zu gewährleisten.
Pflegebedürftige Personen sind aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters, häufiger Multimorbidität oder Gebrechlichkeit einem besonders hohen Risiko für schwere oder tödlich verlaufende Infektionskrankheiten, darunter auch COVID-19, ausgesetzt.
Situation pflegebedürftiger Menschen während der COVID-19-Pandemie
Bewohnerinnen und Bewohner von stationären Pflegeeinrichtungen sind in einem erheblichen Maße und auf verschiedenen Ebenen von der COVID-19-Pandemie betroffen. Sie erkranken und versterben deutlich häufiger an COVID-19 als Menschen der gleichen Altersgruppe, die nicht in einem Alten- oder Pflegeheim untergebracht sind. Die Erfahrungen aus den ersten Pandemie-Wellen zeigen: Je höher die SARS-CoV-2-Inzidenzen in der Gesamtbevölkerung, desto höher die Zahl der Ausbrüche in Alten- und Pflegeheimen. Diese Assoziation konnte durch verbesserte Hygiene- und Infektionsschutzmaßnahmen, verbunden mit z.B. regelmäßigen Reihentestungen und den COVID-19-Schutzimpfungen, im Laufe der nachfolgenden Pandemie-Wellen deutlich reduziert werden. Dennoch haben die anhaltend hohen SARS-CoV-2-Gesamtfallzahlen und ein mit der Zeit nachlassender Impfschutz gerade bei älteren Menschen bei gleichzeitigem Auftreten neuer SARS-CoV-2-Virusvarianten in den vergangenen Monaten zum Wiederanstieg der Infektions- und Todesfälle in diesen Einrichtungen geführt. Die Ergebnisse eines auf freiwilliger Basis stattfindenden Impfmonitorings ergaben, dass im Februar 2022 in den Bundesländern sehr unterschiedliche Impfquoten bei den Beschäftigten zu verzeichnen waren und von den Bewohnenden der Alten und Pflegeheime nur 77% mindestens eine Auffrischimpfung und rund 6% die 2. Auffrischimpfung erhalten hatten.
Grundsätzliche strukturelle und personelle Gegebenheiten für pflegebedürftige Menschen in Pflegeeinrichtungen
Bereits vor Beginn der COVID-19-Pandemie haben strukturelle Defizite in den Alten- und Pflegeheimen den Infektionsschutz erschwert. Ein Hauptfaktor ist der bekannte ausgeprägte Personalmangel, Lücken in der fachlichen Qualifikation, insbesondere im Hinblick auf Hygienemaßnahmen, gepaart mit einer hohen Arbeitsbelastung in der stationären und ambulanten Pflege. Um diese Situation grundlegend zu verbessern, müssen die Personaldecke und die fachliche Qualifizierung des Personals erhöht werden. Der Pflegeberuf muss durch eine verbesserte Bezahlung, Reduktion der Arbeitsbelastung und höhere Wertschätzung durch die Gesellschaft attraktiver gestaltet werden. Aufgrund des engen räumlichen Zusammenlebens der Bewohnenden und deren besonderer Vulnerabilität haben diese Einrichtungen einen hohen Schutzbedarf, der mit entsprechenden Maßnahmen erreicht werden muss. Dieser besonders hohe Schutzbedarf und die dafür notwendigen Maßnahmen gelten auch für die Betreuten der ambulanten Pflege- und Betreuungsdienste.

Spezifische Empfehlungen im Hinblick auf die COVID-19-Situation im kommenden Herbst/Winter 2022/23 und nachhaltige Verbesserungsvorschläge.

1. Personal: In Anbetracht der derzeitigen COVID-19-Pandemie ist eine gute und qualifizierte personelle pflegerische Besetzung noch wichtiger. Daher werden Maßnahmen zur Verbesserung der Qualität durch höherqualifizierende Ausbildungen (Anpassung an die Pflege im Krankenhaus) und zur Verstärkung der Personaldecke in der Altenpflege, auch durch eine Steigerung der Attraktivität dieser Tätigkeiten, dringend empfohlen. Dem Pflege- und Betreuungspersonal kommt für den Schutz der Betreuten eine besondere Verantwortung zu. Daher ist neben einer angemessenen Vergütung auch eine spezielle Aus- und Weiterbildung zur Qualifizierung von kompetentem Personal notwendig. So wird auch das Verständnis für wichtige Präventionsmaßnahmen, wie z.B. Impfungen, gestärkt.

2. Medizinische Versorgung: Eine gute und kontinuierliche medizinische Versorgung von älteren Menschen in der stationären Langzeitpflege ist unabdingbar. Insbesondere aufgrund der engen Zusammenhänge zwischen Erkrankungsrisiko, vorbestehenden chronischen Krankheiten und körperlichen oder kognitiven Einschränkungen ist dies auch eine Voraussetzung für einen effektiven Infektionsschutz. Zur Erreichung dieser Ziele sollte das Konzept von HeimärztInnen, die den besonderen medizinischen, zeitlichen und kommunikativen Bedürfnissen gerecht werden können, stärker gefördert werden. Auch die Einbindung von speziell ausgebildetem Pflegefachpersonal, sog. „Community Health Nurses“, kann zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Bewohnenden beitragen. Dieses Konzept wurde in anderen Ländern bereits erfolgreich etabliert.

3. Infektionsprävention: Für die Prävention der Verbreitung von SARS-CoV-2 und anderer Infektionserreger ist das Vorliegen und die Umsetzung von qualitativ hochwertigen Hygienekonzepten wesentlich. Eine Voraussetzung hierfür ist ausreichend vorhandenes qualifiziertes Personal, denn eine erfolgreiche Umsetzung von Hygienekonzepten benötigt Fachkenntnis, Sorgfalt und Zeit. Eine wesentliche Grundvoraussetzung ist die Schaffung der gesetzlichen Verpflichtung eines Hygienemanagements in Alten- und Pflegeheimen, z.B. im Infektionsschutzgesetz, einhergehend z.B. mit der Schaffung von Hygienebeauftragten und damit der Erhöhung der Hygienekompetenzen der Beschäftigten. Im Rahmen von Fortbildungen sollten hygienerelevante Inhalte stärkere Berücksichtigung finden und ein regelmäßiger Nachweis darüber durch die Alten- und Pflegeheime erbracht werden, dies auch vor dem Hintergrund erheblicher Personalfluktuationen. Insbesondere im Hinblick auf die COVID-19-Situation im kommenden Herbst und Winter sollten zur Verhinderung und zur Eindämmung von COVID-19-Ausbrüchen zusätzliche Präventions und Managementmaßnahmen (z.B. regelmäßige Testungen bei den Beschäftigten, Besuchern und Bewohnenden sowie niederschwellige aufsuchende Angebote zur Durchführung von Impfungen) umgesetzt werden.
Weiterhin wird zur Verbesserung des Infektionsschutzes in den Einrichtungen eine regelmäßige Kontrolle und Beratung durch die Gesundheitsämter empfohlen, wobei die Gesundheitsämter die Erarbeitung von Hygienekonzepten unterstützen. Eine enge Abstimmung und der regelmäßige Austausch u.a. in Form von „präventiven Heimbesuchen“ durch die Gesundheitsämter sind dabei auch im Hinblick auf die Kontrolle und Eindämmung von COVID-19-Ausbrüchen und der damit verbundenen Einleitung entsprechender Maßnahmen dringend erforderlich.

4. Risikofaktoren: Insbesondere in dem Spannungsfeld zwischen hohem Schutzbedarf und der Erhaltung sozialer Teilhabe sowie Lebensqualität mangelt es an Informationen und Erkenntnissen zur Umsetzung des Infektionsschutzes von pflegebedürftigen Personen, sowohl im stationären als auch im ambulanten Sektor. Auch weil der Anteil pflegebedürftiger Personen stetig größer wird, muss die Forschung in diesem Bereich intensiviert werden (z.B. durch epidemiologische Studien, Interventionsstudien und die Durchführung von systematischen Reviews). Während in der COVID-19-Pandemie deutlich wurde, dass die Größe von Alten- und Pflegeheimen das Risiko der Bewohnenden für eine SARS-CoV-2-Infektion beeinflusst, fehlt z.B. Evidenz für eine evtl. Bedeutung der Trägerschaft oder Organisationsform der Alten- und Pflegeheime für das Pandemiemanagement. Insbesondere in Hinblick auf mögliche zukünftige Pandemien wird daher die weitere Forschung zu den Auswirkungen der Unterbringung auf die Gesundheit und Lebensqualität pflegebedürftiger Menschen empfohlen. Daher sollten bereits existierende Monitoring- und Surveillance-Systeme zur Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland die Gruppe pflegebedürftiger Menschen in Zukunft einschließen. Dies umfasst ein Monitoring von Gesundheit und Wohlbefinden ebenso wie die Erhebung von Determinanten der Gesundheit, einschließlich von versorgungsrelevanter Infrastruktur, wie Qualifikation und Verfügbarkeit von Pflegekräften. Solche Erhebungsinstrumente sollten in Anbetracht des demographischen Wandels gesetzlich verankert und zeitnah in Zusammenarbeit mit Ländern, Städten und Gemeinden etabliert werden.

 

Zustimmung im ExpertInnenrat: 19 von 19

 

Quelle: Bundesregierung (rs)

25.05.2022