11. Stellungnahme des Corona ExpertInnenrats der Bundesregierung zu Covid 19 – „Pandemievorbereitung auf Herbst/Winter 2022/23“


Ausgangslage
• Aktuell besteht ein hoher Immunisierungsgrad in der Bevölkerung, gleichzeitig treten Virusvarianten mit verringerter Krankheitsschwere auf.
• Abhängig vom Verlauf der Pandemie und möglicher Szenarien ergibt sich ein Strategiewechsel von den bisherigen Ansätzen der Eindämmung (Containment) zu Ansätzen des Schutzes vulnerabler Gruppen (Protektion) und der Abmilderung schwerer Erkrankungen (Mitigierung), sofern es die Virulenz einer neuen VOC und die Krankheitslast zulassen.
• Das Gesundheitswesen und weitere Sektoren des öffentlichen Lebens sowie die Bevölkerung müssen sich darauf einstellen und vorbereiten, dass SARS-CoV-2 und andere Atemwegsinfektionen (z.B. Influenza, RSV) im Herbst und Winter 2022/23 saisonal bedingt zunehmen werden.
• Es besteht eine allgemeiner Impfempfehlung für alle Menschen ab 5 Jahren. Durch nachlassenden Schutz gegen Infektion und Impflücken in bestimmten Bevölkerungsteilen (z. B. Ältere) besteht jedoch weiterhin eine relevante Immunitätslücke.
• Die verbleibende Impflücke und die abnehmende Immunität im Laufe der Zeit, die fortschreitende Virusevolution und die Krankheitsaktivität durch andere Atemwegserreger werden das Gesundheitssystem und die kritische Infrastruktur im Herbst / Winter wahrscheinlich erneut erheblich belasten.

Günstigstes Szenario
• Eine neue Virusvariante dominiert mit im Vergleich zur Omikron-Variante weniger krankmachenden EigenschaftenStärker eingreifende Infektionsschutzmaßnahmen sind nicht mehr oder nur für den Schutz von Risikopersonen notwendig.
• Es kann zu höheren Infektionszahlen durch andere Atemwegserreger wie Influenza kommen.
• Die Infektionshäufungen belasten das Gesundheitswesen vor allem im Bereich der Pädiatrie, aber auch durch Arbeitsausfälle in der berufstätigen Bevölkerung.

Basisszenario
• Die durch SARS-CoV-2 hervorgerufene Krankheitslast bleibt ähnlich wie bei den jüngst zunehmenden Omikron-Varianten BA.4, BA.5 und BA.2.12.1.
• Über die gesamte kältere Jahreszeit kommt es zu einem gehäuften Auftreten von Infektionen und Arbeitsausfällen.
• Trotz der moderaten COVID-19-Belastung der Intensivmedizin könnten die Arbeitsausfälle erneut flächendeckende Maßnahmen des Übertragungsschutzes (Masken und Abstand in Innenräumen) aber auch Maßnahmen der Kontaktreduktion nach regionaler Maßgabe erforderlich machen.

Ungünstiges Szenario
• Eine neue Virusvariante mit einer Kombination aus verstärkter Immunflucht bzw. Übertragbarkeit und erhöhter Krankheitsschwere dominiert.
• Auch vollständig Geimpfte könnten ohne Zusatzimpfung bei Vorliegen von Risikofaktoren einen schweren Verlauf entwickeln.
• Das Gesundheitssystem ist durch COVID-19 -Fälle auf den Intensiv- und Normalstationen stark belastet.
• Erst gegen Frühjahr 2023 könnten allgemeine Schutzmaßnahmen wie Maskenpflicht und Abstandsgebot zurückgefahren werden.

Ziele und Strategien für den Herbst/Winter 2022/23
Die generellen Strategien für Herbst/Winter dienen der Abmilderung pandemiebedingter Folgen. Ziele sind der Schutz des Gesundheitssystems, der kritischen Infrastruktur (KRITIS) und der besonders vulnerablen Bevölkerungsgruppen unter Minimierung der kollateralen und gesundheitlichen Belastungen der Gesellschaft. Unabhängig davon ist eine generelle Vorbereitung auf alle oben genannten Szenarien unerlässlich.
Eine vorausschauende Vorbereitung mit kurzen Reaktionszeiten auf veränderte Infektionslagen in den skizzierten Szenarien reduziert die pandemiebedingten (Sekundär-)Schäden und hat die höchste Effektivität, um Inzidenz, Erkrankungen und Todesfälle zu verringern. Besonders wenn eine Überlastung des Gesundheitswesens droht und eine neue besorgniserregende Variante (Variant of Concern, VOC) auftritt, ist eine schnelle Reaktion notwendig.
In jedem Fall erfordert die Vorbereitung:
• Eine solide rechtliche Grundlage für Infektionsschutzmaßnahmen, die eine dem Infektionsgeschehen angepasste schnelle Reaktion ermöglicht
• Eine zentrale Koordination der Pandemiemaßnahmen zwischen Bund und Ländern
• Eine bundesweit möglichst einheitliche und schnelle Kommunikation aller bestehenden Regelungen und Empfehlungen
• Eine deutliche Verbesserung des frühzeitigen Patientenzugangs zu antiviraler Medikation im ambulanten Bereich bzw. in der Frühphase der Erkrankung
• Die Verstetigung des bundesweiten Kleeblattkonzeptes zur strategischen Patientenverlegung
• Die Festlegung des Umgangs mit einer neuen VOC insbesondere im Einreisekontext

(A) Kernbereich „Datenerhebung“
Eine systematische Erhebung der nach WHO etablierten Parameter zur Infektionsdynamik, Krankheitsschwere und Belastung des Gesundheitswesens ist zwingend notwendig. Die Erfassung dieser Parameter sollte nachhaltig und detailliert etabliert werden, um das System für die Zukunft über COVID-19 hinaus resilient aufzustellen.
Es wird eine Anpassung der Surveillance- und Test-Strategie empfohlen. Erforderlich hierfür ist u.a.:
• Bei stabiler Infektionslage eine schrittweise Reduktion der Testung auf SARS-CoV-2 auf symptomatische Fälle, begründete Verdachtsfälle sowie die Testung zum Schutz von Risikogruppen
• Eine schnell reaktivierbare, leistungsfähige Testinfrastruktur im Herbst/Winter mit verbesserter Qualitätskontrolle.
• Ein regelmäßiges Screening auf SARS-CoV-2 und Influenzaviren in Krankenhäusern und Einrichtungen mit vulnerablen Gruppen
• Die Testung der KrankenhauspatientInnen mit neu aufgetretenen respiratorischen Symptomen auf SARS-CoV-2 und Influenza mittels PCR. Ausgewählte Krankenhäuser unterschiedlicher Versorgungsstufen sollten zudem eine Stichprobe der Neuaufnahmen aller Altersstufen mit Hilfe eines respiratorischen Panels auf verschiedenste Atemwegserreger testen und die Ergebnisse an das RKI melden.
• Eine zeitnahe verpflichtende Anbindung aller Krankenhäuser an das DEMIS-System zur Übermittlung der Infektionsfälle.

B) Kernbereich „Datenanalyse und Prognose“
Die zur Verfügung stehenden Daten sollten weiterhin kontinuierlich und systematisch analysiert, aufbereitet und bewertet werden. Ein niedrigschwelliger Zugang zu allen relevanten Daten sollte für die Wissenschaft maschinenlesbar hergestellt und für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.
Zur Datenanalyse gehört:
• Prognose der Krankenhaus- und Intensivbelastung mit COVID-19, RSV und Influenza, in statischen und dynamischen Modellen
• Erhebung der COVID-19-unabhängigen Belastung des Gesundheitswesens (Zahl der mit Personal betreibbaren Betten unterteilt nach freien und belegten Betten sowie zur Verfügung stehendes Pflegepersonal in der direkten Patientenversorgung)
• Kontinuierliche Bewertung der Teststrategie mit Kosten-/Nutzenanalyse
• Retrospektive und prospektive Bewertung der Maßnahmen der Infektionskontrolle
• Fortwährendes Monitoring des Impfverhaltens und der Impfmotivation sowie der Adhärenz zu Infektionsschutzmaßnahmen in der Bevölkerung

(C) Kernbereich „Verhaltensmanagement und Kommunikation“
Verhaltensmanagement und Kommunikationsstrategien kommt eine herausragende Bedeutung für die kommenden Monate hinaus zu.
Der ExpertInnenrat empfiehlt u.a. folgende Maßnahmen für eine adäquate Vorbereitung:
• Schutzverhalten so barrierefrei und leicht wie möglich machen, z.B. leicht zugängliche Impfzentren, personalisierte Ansprache (Verhaltensmanagement)
• Vorausschauendes Management der Erwartungen der Bevölkerung, z.B. transparente Kommunikation möglicher Szenarien und Vorbereitungen (politische Kommunikation)
• Nutzung der persönlichen Kommunikation (auch in mediatisierter Form wie in Chats, Hotlines, WhatsApp), um Bedenken, Sorgen und Fragen der Bevölkerung möglichst früh aufzugreifen
• Bereitstellen leicht zugänglicher und zielgruppespezifischer Informationsquellen (am RKI, BZgA, Gesundheitsministerien, Gesundheitsämter, Arztpraxen etc.) für vertrauenswürdige Informationen zu COVID-19, Risiken von Long-COVID, den Vorteilen und Risiken einer Impfung sowie zu COVID-19 bezogenen Mythen und Desinformation; Bereitstellung von Entscheidungshilfen (z.B. wer soll sich wann boostern lassen?) sowie Rekrutierung und Schulung von Multiplikatoren (Gesundheitskommunikation)

(D) Kernbereich „Prävention“
Der ExpertInnenrat empfiehlt u.a. folgende Maßnahmen für eine adäquate Vorbereitung der Prävention und Intervention:
• Erhöhung der Impf- und Boosterquote nach STIKO-Empfehlung, u.a. durch aufsuchende Impfteams, Public Health-Nurse-Konzept, Impfaufklärung in Schulen durch ÖGD, schnell zu reaktivierende Impfzentren, Verstetigung der Impferfassung, proaktives Angebot und Aufklärungskampagne zur Influenza- und Pneumokokkenschutzimpfung
• Schnelle Reaktionsfähigkeit mittels eines Werkzeugkastens für regional kurzfristig einsetzbare, ausgewogene Schutzmaßnahmen
• Schaffung einer soliden rechtlichen Grundlage für mögliche Schutzmaßnahmen (z. B. Maskenpflicht, Test- und Hygienekonzepte sowie im Fall einer Überlastung des Gesundheitssystems auch weitere Kontaktreduktionsmaßnahmen)
• Zeitnahe Überarbeitung der Hygienekonzepte und medizinischer Leitlinien für Alten- und Pflegeheime sowie für Kinderbetreuungseinrichtungen (Kitas/Schulen)
• Beschränkung der Kontaktnachverfolgung auf besondere Situationen, z.B. bei pathogeneren VOC, lokalen Ausbrüchen oder in Alten- und Pflegeheimen
• Vermeidung von sekundären Schäden im Gesundheitssystem (z.B. Personalfluktuation durch übermäßige Arbeitsbelastung)
• Weiterentwicklung der Konzepte zum Infektionsschutz am Arbeitsplatz, inklusive Ausformulierung der Hygienemaßnahmen und Home-Office Plicht, falls diese wieder notwendig werden sollten
• Ausbau und Entwicklung eines klaren, detaillierten Konzepts für Hygienemaßnahmen an Betreuungseinrichtungen, inklusive Konzepte für Wechsel- oder Fernunterricht, als Vorbereitung für den Fall, dass eine solche Maßnahme in dieser Pandemie oder in einer zukünftigen Krise notwendig werden sollte

(E) Kernbereich „Spezifische Maßnahmen“
Da die Viruslast in den ersten Tagen der Erkrankung besonders hoch ist und frühzeitige Therapien die Schwere der Erkrankung evidenzbasiert abmildern können, sollten insbesondere für vulnerable Gruppen die Maßnahmen zur Eindämmung der Folgen einer Erkrankung deutlich verstärkt werden.
Dazu gehören u.a.:
• Verbesserung der frühzeitigen Applikation antiviraler Medikamente und/oder monoklonaler Antikörper
• Einbeziehung des ÖGD in die frühzeitige Erfassung und Therapie symptomatischer Fälle in vulnerablen Risikogruppen
• Stärkere Förderung der Therapieentwicklung, insbesondere zu Long/Post-COVID, zu antiviralen Medikamenten und immunmodulatorischen Substanzen gegen COVID-19 und Influenza
• Förderung klinischer Studien über nachhaltige Strukturen mit dem Fokus der antiviralen Therapie schwerer Verläufe und Entwicklung neutralisierender monoklonaler Antikörper
• Entbürokratisierung und Reduktion der Überregulation klinischer Studien in Deutschland
• Verbesserung der nationalen Reserve für Gesundheitsschutz (Persönliche Schutzausrüstung, lebenswichtige Medikamente)

Kinder und vulnerable Gruppen
Vulnerable Gruppen, insbesondere die hochaltrige Bevölkerung und Menschen mit bestimmten Vorerkrankungen, sowie Kinder und Jugendliche bedürfen eines besonderen Schutzes. Die Sicherung der sozialen Teilhabe durch Schul- und Kitabesuch sowie sportliche und kulturelle Aktivitäten muss weiterhin Priorität genießen. Bei einer starken Infektionswelle im Herbst/ Winter ist mit einem bedrohlichen Engpass an den Kinderkliniken zu rechnen, verschärft durch zu erwartende Personalausfälle.
Der ExpertInnenrat empfiehlt u.a.:
• Die besondere Unterstützung für Kinderkliniken u.a. durch pflegeentlastende Berufsgruppen (z.B. pharmazeutisch-technische AssistentInnen, medizinische Fachangestellte)
• Intensivierung der Impfaufklärung und aufsuchende Impfangebote (u.a. Gesundheitsaufklärung und Impfung an Schulen durch ÖGD, bessere Information der Eltern)
• Etablierung einer grundsätzlichen Strategie zur Planung von Unterrichts-, Organisations- und Betreuungsformen in Schulen und Kitas unter Pandemiebedingungen
• Angepasste Hygiene- und Schutzmaßnahmen in Schulen und Kitas: Beschränkung der Testung von Kindern und Jugendlichen auf symptomatische Fälle und präventiv bei Auftreten neuer und gefährlicherer Varianten (VOC) sowie bei Ausbruchgeschehen; gezielter Ausbau der syndromischen Surveillance; Möglichkeit der Kostenübernahme freiwilliger Testungen, insbesondere für hilfebedürftige Familien
• Verstärkung von Konzepten zur Erforschung und Versorgung psychischer Auswirkungen der Pandemie
• Verpflichtende CO2-Messung in Klassenräumen
• Stigmatisierung bei freiwilligen Tragen der Masken entgegenwirken

 

 

Zustimmung im ExpertInnenrat: 19/19

 

Quelle : Expertinnenrat der Bundesregierung

11.06.2022